Wir wünschen allen Lesern ein frohes Weihnachtsfest und alles Gute für das Jahr 2023.

Zu Weihnachten gibt es traditionell wieder eine Geschichte von Onkel Fritz Kuder (geb. 1897 / gest. 1983), die vor ziemlich genau 55 Jahren in Feldbergs Töchterlein (Markgräfler Tagblatt)  vom 23. Dezember 1967 veröffentlicht wurde. Auch diese Geschichte spiegelt den Zeitgeist der Jahre 1900 bis 1910, Erzählweise, Heimatverbundenheit und die enge Verzahnung zwischen Kirche und Bevölkerung wieder. Hauptdarsteller sind sehr wahrscheinlich er selbst mit seinen beiden Brüdern Max und Hermann sowie seiner Schwester.

Weitere Geschichten von Onkel Fritz:

Dorfweihnachten auf dem Dinkelberg.

Von Fritz Kuder, Adelhausen / Dülken

Als im 4. Jahrhundert das Weihnachtsfest eingeführt wurde, ahnte wohl noch niemand, daß damit einem großen Teil der Menschheit, der christlichen Welt, eines der schönsten und heute volkstümlichsten Feste geschenkt wurde. Es wird in allen Kulturstaaten, wenn auch in verschiedener Form gefeiert. Die Mohammedaner nennen es Fest zu den heiligen Nächten".

Da über das Geburtsdatum von Jesu keine Überlieferungen vorhanden waren, legte man das Geburtsfest auf den 25. Dezember, den Tag der Wintersonnenwende. – Die Sommersonnenwende ist am 24. Juni –. Beide Tage zeigen den Zeitpunkt an, an dem die Sonne am weitesten vom Äquator entfernt ist. Ich habe aber nun nicht die Absicht, Sie mit einer liturgisch-philosophischen Betrachtung über das Weihnachtsfest zu beglücken, wir wollen vielmehr zusammen zurückwandern zur Jahrhundertwende und eine Dorfweihnacht der damaligen Zeit erleben, wie sie so ein Dorfbub noch in Erinnerung hat. Da aber meine eigenen Kind­heitserlebnisse nicht über un­ser Dorf Adelhausen, hinausreichten, wollen wir auch die Feier in diesem begrenzten Raum belassen. Vieles, was hier niedergeschrieben wurde, ist nicht neu und auch nicht alt, aber manches war doch anders als heute. Es ist auch anzunehmen, daß die alten Sitten und Gebräuche in den Landdörfern reiner erhalten geblieben sind als in den Städten. Eines steht jedenfalls fest, daß die Vorweihnachts- und Weihnachtsfreude der Dorfkinder mit ihrem eng abgegrenzten Lebensraum und dem Mangel an Erlebnissen größer war, als die der Stadtkinder mit ihrem abwechslungsreichen Alltag, der das individuelle eines Erlebten abstumpft und verwischt.

Also, fangen wir mit der Vorweihnachtszeit an. Wie alle anderen Kinder, waren auch wir Dorfkinder bemüht, in den Wochen vor Weihnachten recht artig zu sein, um den Eltern Ärger und uns Rügen zu ersparen. Aber das war nicht so einfach, denn so ganz kleine Teufelchen sitzen auch in den Ecken der Kinderherzen herum und benutzen jede Gelegenheit mit, wenn auch winzig kleinen bösen Taten, zum Zuge zu kommen. Bei uns hatten sie ja kein Glück, wir aßen artig und viel, gingen um jede Dreckpfütze herum, bewarfen uns nicht mit schmutzigem Schnee, gingen abends ohne zu Murren ins Bett und beteten laut und andächtig. Wir wußten es genau, am hl Abend gab es nicht nur Lob, sondern auch Tadel. Wie, das werden wir später sehen. Die Eltern aber dachten: „Wäre doch nur das ganze Jahr über Vorweihnachtszeit!"


Heimlichkeiten im Haus

Kaum hatten wir abends die Augen im Schlafe geschlossen, huschten Mütter und ältere Schwestern in die Nebenkammer und fischten aus einem Versteck Strick- und Nähzeug heraus. Ja, in diesen Abendstunden wurde fleißig hantiert, denn die herzustellenden Geschenke mußten bis zum hl. Abend fertig sein. Uns Kindern fiel es in dieser Zeit auch nicht auf, wenn man mit den Worten: "Chum, mer wai emol luege, wiä groß Du bisch“, das kleine Körperchen mit dem Zentimetermaß abtastete. Im Nu wurden wir vermessen. Halsumfang, Schulterbreite, Ärmellänge, Pullover- und Westenlänge, hatte man im Eiltempo festgestellt. Die Petroleumlampen brannten in der Vorweihnachtszeit länger als sonst. Die Mannspersonen kümmerten sich nicht um diese Dinge. Sie hatten kurz vor dem Fest den Christbaum, eine kleine Tanne, zu besorgen, und wie das zuging, muß ich Ihnen genau schildern.

Man glaube es nicht, aber das kleine Gewächs für die hohen Zwecke wurde damals zum größten Teil aus einem fremden Wald geholt. Gestohlen darf man dafür nicht sagen, denn das Stehlen liegt einem Bauern nicht. Es war ein stiller Brauch, eine Sitte, die wahrscheinlich auch in anderen Dörfern üblich war, sie wurde nicht als Diebstahl angesehen. Einen Markt für Weihnachtsbäume gab es damals noch nicht, manch einer hatte selbst keinen Jungtannenbestand, aber das "Wiähnächtsbäumli" durfte doch nicht fehlen. Kaufen tat man es auch nicht, obwohl man dies gut konnte, also besorgte man sich eines. Es ist auch nie jemand, den man bei diesem "Besorgen" überraschte, angezeigt worden. Es war auch mehr ein Ausgleichsunternehmen, denn jeder Bauer hatte verschiedene eigene Wälder, auch Tannenwälder, die, als die Bäume noch klein waren, ebenfalls um die Weihnachtszeit bluten mußten. So war am Ende. wieder alles im Lot, und keiner hatte aus tiefster Seele gesündigt, nur so obendrüber weg.

So ein paar Tage vor dem Fest sah man Männer des Dorfes, nach der Abendviehfütterung, also bei Dunkelheit, nach verschiedenen Waldgebieten, wandern. Ein dicker Schal um den Hals und ein Schlapphut auf dem Kopfe dienten als Wetter- und Sichtschutz. Hätte man sie untersucht, wäre ein "Hogemesser", das sonst als Speckmesser diente, zum Vorschein gekommen. Am meisten mußte ein Jungtannenbestand in der "Erlematt" herhalten, der dem damaligen Großbauern Grether aus Lörrach gehörte. Ein Vorfahre dieses Bauern Grether hatte Mitte des vorigen Jahrhunderts, als eine Hungersnot herrschte, in unserer Gemarkung Adelhausen eine ganze Reihe von Wiesen und Wäldern für wenig Geld, bzw. Naturalien, erworben. Für ein bis zwei Sack Mehl, eine Wiese oder einen Wald, also für einen sehr niedrigen Preis. Und so hatten die damaligen "Christbaumbesorger" in kleinen Raten das Wiedergeholt, was ihren Vorfahren beim Verkauf verlorengegangen war, also von Sünde keine Spur.

Aber ein bißchen hatte den Waldwanderern das böse Gewissen doch mitgespielt. Wenn sie so hinter einem ausgesuchten Tannenbäumchen saßen, das Messer in der Hand und bereit zum Schnitte, spitzten sie doch noch einmal die Ohren, um festzustellen, ob die Luft auch rein war. Hörten sie aber ein Hundegebell, war sie nicht rein, denn da war der Waldhüter Otto mit seinem Schäferhund unterwegs. Ganz still saß man dann hinter seinem Bäumchen, hörte nur das Hundegebell, das leider immer näher kam, aber auch den eigenen Atem und das eigene Herz, das sich über das Kragenbörtchen hinaushämmerte. Zum Glück war der leidige Hund kein Fährtensucher, und so ging alles gut. Waldhüter und Begleiter gingen am Waldrand vorbei, keiner bemerkte den kleinen Sünder. Nachdem sich das Bauernherz wieder beruhigt hatte und auch das Hundegebell verstummt war, schritt man zu Tat. Der Heimweg wurde so gewählt, daß man direkt von hinten ins Haus kam. Das war möglich, weil Adelhausen kein Haufendorf, sondern ein Reihendorf ist, die Häuser liegen alle an einer Straße. Die Hinterdörfler huschten über Erlegraben - Seematt, die Oberdörfler über den Tüllweg - Bauerte und die Unterdörfler über Seeboden - Dorfmatt zu ihren Behausungen und waren froh, wenn der Baum im "Schopf" verstaut war.

So war es, und warum konnte ich alles so genau schildern?  Denken Sie mal haarscharf darüber nach.

Heiligabend im Elternhaus

Am hl Abend war alles in der Stube versammelt. Die Kleinen saßen bei der Mutter oder einer Schwester auf dem Schoß, die ältesten Geschwister auf der Ofenbank oder der "Chunscht". In der Mitte des Zimmers, in dem an Stelle einer Petroleumlampe –elektr. Licht gab es damals noch nicht- ein Kerzenlicht brannte, stand ein kleines Tischchen, auf das der Christbaum zu stehen kommen sollte. Alle waren mäuschenstill und schauten zu der Türe hin, die Kleinen schmiegten sich an ihre Betreuer, die größeren Geschwister aber blickten ängstlich zur Türfalle, ob sie sich schon bewegte, Sie waren nicht immer brav und hatten jetzt Angst, denn sie wußten genau, daß mit dem Christkind ein vermummter Mann kam, der den "Strafvollzug" durchzuführen hatte. Mit dem schwarzen Schlapphut, einer schwarzen Zipfelkappe über dem Gesicht, behandschuht, mit einem langen Mantel und hohen Schaftstiefeln angetan, konnte er einem schon Furcht .einflößen, aber noch schlimmer war, daß er eine lange Besenrute in der Hand hatte und eine lange Eisenkette über der Schulter trug,

Wenn die Kette rasselten

Das Rasseln dieser Kette vor dem Hause war das akustische Zeichen für die Ankunft des Christkindes und nun war es auch soweit. Nach einem heftigen klopfen an die Türe, das unser kleines Herz schon zum Puppern brachte, tat sich diese auf, und herein trat das leibhaftige himmlische Christkind, ganz in Weiß von Kopf bis Fuß, mit weißen Handschuhen und einem weißen dichten SchIeier über dem Gesicht. In der linken Hand trug es den Lichterbaum mit den brennenden Kerzen. An ihm hingen Äpfel, Nüsse, goldene und weiße Kugeln und viel Süßigkeiten, die das Christkind in der Vorweihnachtszeit heimlich gebacken hatte. In der rechten Hand war ein dickes Buch zu sehen; in dem die guten und bösen Taten der Kinder verzeichnet waren, den Karton mit den Geschenken trug der Mann aus dem Fegefeuer.

Die Kulleraugen der Kleinen, das gemischte Angstgefühl der Größeren, mit den kleinen, schwarzen Flecken auf der Seele, die Becherung, das alles ist ja heute auch noch so, aber die Strafen für das Böse waren damals härter. Der schwarze Mann stand hinter dem Christkind, und sobald das Sündenregister eines Buben oder Mädchens bekannt war, hing der arme Sünder auch schon in der Kette, die um seinen Bauch geschlungen war. Hinaus ging es mit ihm in die finstere, kalte Winternacht. Dort wurde er ordentlich geschüttelt, durch den Schnee geschleift und auch mit der Rute bearbeitet. Dem hohen Richter mußte man hoch und heilig versprechen, nie wieder etwas Böses zu tun, eher kam man nicht aus der Gliederfessel. Daß das Ganze nicht ohne Zetermordio und Schreien abging, können Sie sich wohl denken. Die schon mal Gefolterten wußten, je lauter und mehr man schrie. desto schneller kam man aus dem Eisenband, also tat man es mit Erfolg. Erbärmlich heulend ging es zurück in das Zimmer, manchmal war auch noch ein zweiter oder eine zweite an der Reihe, was bei dem bereits Gereinigten ein stilles Schmunzeln auslöste, und das war schon wieder eine ganz kleine Sünde.

Freude an den Geschenken

Nachdem nun alles gebüßt und der Tränenstrom versiegt war, kam doch die Freude wieder auf. Man freute sich über die Geschenke, und das war keine Puppe zu DM 50,-, kein Puppenwagen zu DM 80,- oder eine Eisenbahn zu DM 100,-, nein, das waren einfache Gebrauchsgegenstände: ein Paar Fäustlinge oder eine gestrickte Mütze oder ein Paar "Stößli", für die Kleinsten vielleicht noch eine Puppe, die aber bestimmt nicht mehr als eine Goldmark gekostet hat. Zu diesen Geschenken gab es noch einen Teller mit Äpfeln, Nüssen und selbstgebackenen" Wiähnächtsbrötli". Das war alles, aber die Freude war damals größer, als die der heutigen Kinder mit ihrem Berg von teuren Sachen. Die Menge tut es also nicht. Schenken ist auch eine Erziehungssache.

Am Weihnachtsmorgen begann die Christmette schon um 6 Uhr, also hatten sowohl die schulpflichtigen Kinder als auch die Großen früh aufzustehen. Um ½ 6 Uhr war Abmarsch, denn gewöhnlich mußte man durch tiefen Schnee zu unserer Kirche nach Obereichsel wandern. Auf dem oberen und unteren Kirchweg zogen so die kleinen Prozessionen hin zur Wallfahrtskirche mit den Gebeinen von drei hl; Jungfrauen. Die holzgeschnitzten Altäre wurden angestrahlt, die ganze Kirche atmete ein Weihnachtsfluidum, wer wollte da nicht in eine Festesstimmung kommen. Trotz dieser Feierlichkeiten schlossen sich so verschiedene Kinderaugen für ein paar Sekunden, der Vorabend hat sie zu sehr in Anspruch genommen, aber beim Anstimmen des schönen Liedes von der stillen- Nacht, das im Jahre 1818 von dem Lehrer und Hilfsgeistlichen Josef Mohr, Oberndorf, gedichtet und von Franz Gruber vertont wurde, war alles wieder hellwach und sang in Andacht und Ergebenheit kräftig mit.

Schnee bis ein Meter Höhe.

Nach dem Gottesdienst zog man wieder die gleichen Wege zurück, aber die Ruhepause war nur kurz, denn um zehn Uhr begann das Hochamt und damit der zweite Marsch nach Eichsel. Das war schon eine gute Morgenleistung, denn der auf die Straße gewehte Schnee lag an vielen Stellen über 1 Meter hoch. Die Winter waren Anfang des Jahrhunderts noch strenger als die heutigen. Die Kinder unserer Familie waren am Weihnachtsmorgen besser dran als die anderen. Sie durften nach der Christmette bei der Familie des Waldhüters Maier in Ober-Eichsel bleiben. Dort kam die zweite Weihnachtsfreude auf uns zu, denn es gab zum Morgenkaffee Gugelhupf und Zucker. Wenn wir zum Hochamt gingen, hatten wir die lieben, hilfsbereiten Gastgeber um ein bis zwei Kuchen (aus der großen Form) erleichtert, aber die Familie Maier freute sich über unseren guten Appetit, es waren gütige Menschen. Für diese damalige Gastfreundschaft möchte ich mich heute beim letzten noch lebenden Familiensproß, der lieben Anna,  in Nieder-Eichsel, herzlich bedanken. Mit dem ausklingenden Weihnachtsfest waren aber die Jahresfreuden noch nicht ganz erloschen, denn für die Neujahrstage gab es nochmals Gugelhupf, je nach Kinderzahl zwei bis acht Stück, und der schmeckte wieder so gut. Weihnachts- und Neujahrstage waren im Kalenderjahr die einzigen, an denen es so etwas Gutes gab, fast die ganze übrige Zeit mußte man sich mit selbstgebackenem Bauernbrot begnügen.

Mit den langsam ausklingenden Weihnachts- und Neujahrsfreuden zogen auch die feierlich abgelegten Gelübde dahin. Mädchen und Buben ließen wieder die kleinen Teufelchen in ihre Herzen, die bis zum nächsten Weihnachtsfest wieder ganz mit kleinen Sünden gefüllt waren, also waren sie wieder kleine Sünderlein. So mußte es auch sein, denn wer das ganze Jahr über tugendhaft und brav war, konnte sich in der Weihnachtszeit nicht mehr bessern und damit auch keine Weihnachtsfreude schenken.